Zwischen Kulturschock und Gewöhnungseffekt

Mensch ärgere Dich nicht
Foto: Diana Juneck

Berlin aus der Perspektive eines Iraners und seiner Vorurteile

Immer schon habe ich mit anderen Leuten über die unterschiedlichen Lebensweisen im Iran und in Europa, aber besonders in den beiden Ländern Frankreich und Deutschland diskutiert. Kein Wunder: Der Iran ist ein relativ isoliertes Land. Aus politischen und verschiedenen anderen Gründen gibt es nicht viel Kontakt zwischen den Menschen im Iran und denen aus anderen Ländern. Und das, was man im Iran über westliche Länder weiß, stammt aus den Medien, von Bekannten, die diese Länder bereist haben, oder von Menschen, die in ihnen leben. Aktuell gibt es einige Informationen über das Internet und über soziale Netzwerke. Aber, wie ein Sprichwort so schön sagt: „Hören ist nicht wie Sehen“. Dazu
kommt, dass vieles oft widersprüchlich oder unlogisch erscheint.

Magenkrämpfe, Gewichtsverlust und „metaphysische“ Kälte

In den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Europa habe ich einen handfesten Kulturschock erlitten. Einerseits bin ich von Natur aus neugierig, und so interessierte ich mich sehr für alle neuen Dinge. Andererseits nahm mich das genaue Beobachten alles Neuen so stark in Anspruch, dass mir wenige Wochen wie ein ganzes Semester auf der Uni vorkamen. Ja, es kam mir so vor, als ob ich schwierige Unterrichtseinheiten absolvierte. Ich war irgendwie ständig in Sorge. Mich an das Essen hier zu gewöhnen, war gar nicht so leicht. Besonders schwer tat ich mich mit süß-sauren Speisen. Selbst wenn ich etwas Neues ausprobieren wollte oder nur aus Hunger aß, machte mein Magen das nicht mit: Ständig bekam ich Magenkrämpfe. Auch das Deutschlernen kostete mich viel Kraft. Eine Erkältung, die sich über Monate hinzog, und die vielen anderen Belastungen haben mich sechs Kilo abnehmen lassen. Ich hatte von vielen Landsleuten gehört, dass man hier Depressionen bekäme. Und so wartete ich darauf, wann ich an der Reihe wäre. Und lernte bald zu verstehen, was sie mit „metaphysischer Kälte“ meinten: kaltes Wetter, kurze Tage, wolkiger Himmel, Regen und zwischenmenschliche Kälte.

Deutsche Städte: in die grüne Landschaft gebaut und mit Bedacht für Menschen geplant

Ich hatte gehört, dass Deutschland ausgedehnte Wälder besitzt und in Sachen Umweltschutz weltweit eine Vorreiterrolle einnimmt. Bevor ich hierherkam, hatte ich meine ganz persönliche Vorstellung vom Verhältnis von Stadt und Grünflächen bzw. Wäldern in Deutschland. Diese musste ich nach meiner Ankunft dann komplett revidieren: Es waren nicht die Grünflächen, die um Städte herum angelegt wurden. Vielmehr wurden die Städte in die Landschaft mitten zwischen Grünflächen und Wälder hineingebaut! Ganz im Gegensatz zum Iran, wo die Grünflächen von Menschen künstlich angelegt werden. Sehr überrascht haben mich die abgenutzten Straßen und die alten Gebäude in den Städten. Die Höhe und Größe der Bordsteine empfand ich als sehr niedrig. Dann aber sah ich die vielen alten und behinderten Menschen, die Fahrräder und Kinderwagen, und mir wurde klar, dass man hier beim Städtebau alles vorausschauend geplant hatte: Alles wurde zum Wohl der Fußgänger auf das Nötigste reduziert, bis hin zu kurzen Markierungsstreifen mit wenig Farbe, so dass man sie leichter wahrnimmt.

Das schlichte Outfit der Menschen fiel mir auf: alte Kleider, welche aber von guter Qualität waren, fand ich ungewöhnlich, gefielen mir aber von Anfang an. Die vielen schicken Autos waren mir nicht neu und auch nicht so interessant, die kenne ich aus dem Iran. Aber die einfache und traditionelle Lebensweise der Deutschen überraschte mich doch sehr. Was mich anfangs übrigens ziemlich schockierte, war die altmodische Briefpost und die im Vergleich dazu nur geringe Nutzung von SMS, E-Mails und Faxsendungen. Schwer zu verdauen waren für mich auch das Bankensystem mit all den damit einhergehenden Komplikationen sowie überhaupt die viele unnötige Bürokratie im Allgemeinen.

Die Depression blieb aus

Dass man sich irgendwann an seine neue Umgebung gewöhnt, ist schon eine gute Sache. So findet man Frieden, und viele Fragen lassen einen los. Andererseits führt dieser Gewöhnungseffekt dazu, dass man viele Dinge, die einem vorher immer aufgefallen waren, nicht mehr bewusst wahrnimmt bzw. sie ignoriert. Auf der einen Seite war dieser Effekt für mich interessant, auf der anderen Seite überraschte er mich. Jede Woche habe ich mir vorgenommen, dass ich, wenn ich aus dem Haus gehe, alles um mich herum bewusst wahrnehmen möchte – trotzdem habe ich es dann doch immer wieder vergessen. Ich war fast verzweifelt, weil ich die Dinge nicht mehr sah! Dinge, die mir vorher ganz selbstverständlich jeden Tag auffielen, waren auf einmal verschwunden. Die Busse, die sich beim Anhalten zur Seite neigen, Menschen mit Zeitungen, Büchern oder Tablets in den Händen. Die vielen Menschen mit Piercings oder Kopftüchern. Fahrräder. Elektrische Türen, die nicht defekt waren. Die vielen Zigarettenkippen in den Fußgängerzonen und viele andere Dinge: Sie alle blendete ich auf einmal aus.

Am Ende weiß ich nicht, wo das Problem lag, aber nach einem Jahr haben sich viele Sachen, die mich vorher stark beschäftigten, in Luft aufgelöst. Ich habe mich an meine neue Umgebung angepasst, und es gab auch keine Spuren von Depressionen.

Geschrieben von
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