Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, spielten meine Freundin und ich einmal gemeinsam mit unseren Puppen. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die rief: „Spielst du etwa wieder mit dieser Afghani*? Habe ich dir nicht schon mehrmals gesagt, dass du nicht mit dieser Afghani spielen sollst?“ An jenem Tag ging meine Freundin weg, und ich blieb sitzen und überlegte, was „Afghani“ bedeuten könnte. Als meine Mutter kam, fragte ich sie, was „Afghani“ bedeutete und ob das etwas Schlimmes wäre. Meine Mutter war überrascht und schaute mich an. Ich erzählte ihr, was geschehen war. Als ich meine Mutter anblickte, sah ich, dass sie feuchte Augen hatte. Ich wartete auf eine Antwort, aber sie schaute mich einfach nur an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie versuchte es mir zu erklären, aber ich konnte damals nicht verstehen, was sie mir sagen wollte. Seitdem klang es immer wieder in meinen Ohren: „Spiel nicht mit diesem Afghani-Mädchen!“ Die Jahre vergingen, und ich gewöhnte mich an diesen Satz und verstand seine Bedeutung. Ja, ich bin ein afghanisches Mädchen mit einer afghanischen Familie! Obwohl ich im Iran geboren bin, habe ich afghanische Wurzeln. Die ganzen Jahre lang rätselte ich, warum mich alle nur nach meiner Nationalität einordneten, und das auch noch mit Verachtung. Warum sah man mich nicht einfach als einen Menschen?
Herkunft als Stigma
Welchen Unterschied gibt es zwischen mir und anderen? In all den Jahren im Iran war ich rassistischen Äußerungen ausgesetzt und gezwungen, sie hinzunehmen. Verstanden habe ich allerdings nie, warum es so viel Engstirnigkeit und Rassismus gibt. Habe ich mir etwa ausgesucht, wo ich geboren wurde und mit welcher Nationalität ich zur Welt kam? Als ich die Bedeutung des Wortes „Afghani“ begriff, hatte ich eine drängende Frage an meine Eltern: „Warum leben wir hier und nicht in unserer Heimat?“ Mein Vater gab mir eine traurige Antwort. Er sagte: „Verzeih mir, meine Tochter, dass ich dich an einen Ort brachte, wo man dich nicht bei deinem Namen ruft, sondern ’Afghani‘, und das auch noch wie ein Schimpfwort. Aber in unserem Land herrschte Krieg, und wir waren gezwungen auszuwandern.“
„Verdammte Flüchtlinge!“
In den vergangenen Monaten dachte ich, dass ich nun in ein Land gekommen wäre, in dem Nationalität, Rasse, Hautfarbe, Diskriminierung und Engstirnigkeit keinen Platz hätten. Aber leider ist das nicht der Fall. Gerade heute nachmittag unterhielt ich mich mit meiner Freundin auf Farsi. Die Frau, die neben uns saß, murmelte etwas auf Deutsch. Kurze Zeit später stand sie auf, mit ernstem Gesicht, trat mir im Vorbeigehen auf den Fuß und sagte: „Verdammte Flüchtlinge!“ Sogleich klang mir dieser Satz immer und immer wieder in den Ohren, und es kamen nochmal alle meine Erinnerungen hoch. In mir gingen alte Wunden wieder auf. Ich hatte wieder dasselbe Gefühl wie in meiner Kindheit. Das Gefühl, anders zu sein und mich von anderen zu unterscheiden.
Kein Mensch ist dem anderen übergeordnet
Rassismus – was für ein seltsames Phänomen! Wissen Sie, warum ich „seltsam“ sage? Weil sich kein Mensch seinen Geburtsort, seine Familie oder seine Hautfarbe aussuchen kann. Es ist offensichtlich, dass wir alle auf die Welt gekommen sind, ohne darauf Einfluss zu haben. Deshalb müssen wir uns gegenseitig res- pektieren, unabhängig von der Nationalität oder Hautfarbe. Entscheidend ist, dass wir alle Menschen und alle gleichberechtigt sind. Kein Mensch ist dem anderen übergeordnet. Niemand darf wegen seiner Nationalität, Hautfarbe oder seiner Rasse benachteiligt werden. Fast jeder verurteilt Rassismus und Diskriminierung und bezeichnet diese als „Phänomene des Hasses“. Jeder weiß, dass Diskriminierung und Rassismus in der historischen Vergangenheit Ursache vieler Katastrophen waren. Aber nur wenige möchten sich in Anbetracht dieser Tatsachen von ihren ganz persönlichen rassistischen Gedanken und Verhaltensweisen trennen. Ich hoffe, dass wir eines Tages eine Welt erleben werden, die ohne Rassismus und Diskriminierung auskommt. Eine Welt, in der wir einander ohne Berücksichtigung von Nationalität, Rasse und Hautfarbe wahrnehmen werden.
* Afghani ist im Iran die Bezeichnung für Menschen aus Afghanistan, die dort negativ konnotiert ist und als Schimpfwort benutzt wird.
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