Es war nicht meine Entscheidung, Geflüchteter zu sein
Ich erinnere mich an ein Lied, das ich zuletzt vor über 20 Jahren gehört habe, als ich noch ein Kind war. „La Terraluna“ heißt es und wird abwechselnd auf Italienisch und auf Arabisch gesungen:
Li nunadi man akbar minna
Lasst uns den Erwachsenen zurufen
Mustakbaluna fi aidikum
Unsere Zukunft liegt in euren Händen.
So beginnt der arabische Teil des Songs. Sechs Jahre alt war ich damals und hatte noch keinen blassen Schimmer von Politik oder von Herrschaft. In der Schule mussten wir immerzu hohle Phrasen nachplappern, ohne zu wissen wozu.
Das hier ist meine eigene Geschichte, sie steht aber auch für viele andere …
Warum bin ich ein Geflüchteter? Warum ist mir keine Heimat beschieden, die weiß, was Menschlichkeit bedeutet? Die weiß, dass man den angemessenen Umgang miteinander von klein auf lernen muss? Stattdessen hat man uns in der Grundschule nur nichtssagende Parolen beigebracht. Einheit – Freiheit – Sozialismus. Als wir älter wurden, merkten wir freilich, dass die Wirklichkeit eine ganz andere war, dass sie weder etwas mit Einheit, noch mit Freiheit, noch mit Sozialismus zu tun hatte.
Wir konnten uns unsere Identität nicht aussuchen. Genauso wenig, wie wir uns später ausgesucht haben, Geflüchtete zu sein. Das Leben ist nicht immer so gerecht, wie es sein sollte. Wer würde dem widersprechen wollen? Entweder tritt man auf die ein, die unter einem sind, oder man wird von denen getreten, die über einem sind. Das hinterlässt Wunden. Denn es gibt einem das Gefühl, ein Nichts zu sein, ja für die anderen gar nicht zu existieren.
Lasst mich in Frieden meines Weges ziehen!
Wie oft führe ich diesen Wunsch auf den Lippen. Selbst in die Zwiegespräche mit meinem inneren Ich hat er schon Eingang gefunden. Er ist wie eine unerreichbare Fata Morgana. Denn die Wirklichkeit ist eine andere, fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht, hinterlässt in einem immer wieder Spuren von Enttäuschungen und Niederlagen, mit denen man nicht gerechnet hat.
Ich habe es mir nicht ausgesucht, fern von meinen Geschwistern, von meinem Vater, von meiner Mutter, von meinen Freunden zu leben. Ich habe es mir nicht ausgesucht, mein Leben von Null an neu zu beginnen.
Welche Wahl hätte ich auch haben sollen in einem Land, das mir jedes Recht auf freie Wahl verwehrt hat? In einem Land, in dem Krieg und Zerstörung die einzigen Optionen waren? In einem Land, das einem keine Möglichkeit mehr ließ, sich eine Zukunft zu wählen, die zu einem passt? Keiner weiß, warum ich geflüchtet bin. Warum ich so weite Entfernungen zurückgelegt habe, der Angst vor dem Tod auf hoher See zum Trotz. Ich habe mir nicht ausgesucht, mein Land zu verlassen. Aber das Leben dort ist nun mal nicht so gerecht, wie es sein sollte. Wer nicht von einer Kugel hinweggerafft wird, vegetiert in Furcht vor dem baldigen Tod vor sich hin.
Ob das Schreiben ein Mittel ist, um die innere Anspannung sowie die Konflikte, die aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen, ein wenig zu lindern oder um unsere vergessenen Wurzeln nach und nach freizulegen? Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Ich habe es mir nicht ausgesucht, Geflüchteter zu sein. Aber ich habe mich bewusst für ein menschenwürdiges Leben entschieden, in einem Land, das weiß, was Menschlichkeit bedeutet. Und ich sah mich gezwungen, bei Null anzufangen. Als wäre ich noch immer jener Sechsjährige.
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