Ein Gastbeitrag von YOLLA ALMUREI
Es ist vergeudete Lebenszeit, die Realität zu verdrängen und Träumen nachzuhängen. Wir sollten uns endlich vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit befreien, mit dem wir bereits so lange leben, dass es sich beinahe schon bis in unser Mark gefressen hat. Mit Hoffnungslosigkeit zu leben ist, als würde man mit einer abgeschnittenen Hand leben.
Meine Generation ist eine zähe Generation mit legitimen Wünschen. Davon zeugen die vielen jungen Geflüchteten, Männer wie Frauen, die ihre Träume erfolgreich verwirklicht haben. Freilich – zu träumen allein genügt nicht. Um Hindernisse zu überwinden und Träume zum Erfolg zu führen, sind auch Unterstützung und Hilfe von außen nötig.
Viele junge Leute meiner Generation mussten ihre lang gehegten Träume und Wünsche aber zunächst aufgeben. Es waren Träume, für die sie sich ihre Nächte um die Ohren geschlagen hatten und die sie viele Jahre ihres Lebens kosteten, während derer sie studierten, strebsam waren und hart arbeiteten – nur um schließlich mitanzusehen, wie sich ihr Traum in einem einzigen Augenblick in Schall und Rauch auflöste. Es war der Augenblick, in dem sie beschlossen zu flüchten, um eine neue Heimat zu finden. Doch auch am Anfang dieses Aufbruchs voller Angst stand ein Traum – der erste, seitdem sie alle anderen Träume an der Küste ihrer Heimat begraben mussten: Es war der Traum zu überleben – begleitet von der quälenden Frage, ob man je am Ziel ankommen oder vielmehr als deliziöse Mahlzeit für die Meeresbewohner enden würde. Der denkbar schönste Anblick nach überstandener Todesreise war wohl jener der Küste. Mit dem ersten Schritt, den man auf den fremden Boden setzte, begann dann die größte Reise in Richtung einer neuen Welt, die sich in jeder Hinsicht von der eigenen, bisher bekannten Welt unterscheidet. In der neuen Welt angekommen, tat sich ein geistiges Fragenkarussell auf: „Was jetzt?“, „Wo soll ich anfangen?“, „Wird alles wieder gut?“ und die größte aller Fragen:
„Bin ich tatsächlich endlich in einem sicheren Hafen angekommen?“
Die Antworten auf all diese Fragen haben die meisten jungen Geflüchteten schon gefunden. Doch was ist mit den Leuten, die älter sind? Wie können sie wissen, wohin sie diese Reise führt? Während der zwei Jahre, die ich nun in Deutschland bin, habe ich mit vielen Leuten darüber gesprochen, wie sie sich ihr künftiges Leben in Deutschland vorstellen und wie sie in Anbetracht ihrer derzeitigen Situation mit ihren Träumen umgehen.
Der 37-jährige Herr A. sieht seine Zukunft so: „Als mir der Gedanke kam, nach Deutschland zu gehen, hatte ich nichts anderes im Sinn, als vor der Gefahr zu fliehen. Es wurde unerträglich. Es war, als hätten wir nur darauf gewartet, dass früher oder später der Tod zuschlagen würde. Auf der Straße, bei der Arbeit oder zu Hause. Wenn meine Kinder morgens das Haus verließen, um zur Schule zu gehen, verabschiedete sich meine Frau jedes Mal unter Tränen von ihnen mit einem Gebet, so, als wäre es das letzte Mal gewesen, dass sie die Kinder sah. Denn so viele Kinder kamen von der Schule nicht wieder heim! Es war unfassbar traurig. Unser einziger Gedanke war zu überleben. Und genau dieser Gedanke hat uns veranlasst, alles, was uns noch geblieben war, zusammenzupacken und ohne groß zu überlegen fortzugehen. Während wir versuchten, dem Krieg zu entkommen, haben wir allerdings eine Sache verlernt, und zwar zu träumen.
In meiner Heimat hatte ich mein eigenes Haus. Es aufzubauen, kostete mich viele Jahre meines Lebens, viel Arbeit, Kraft und Entbehrung. Und mit nur einem Schlag war alles zerstört. Das Haus war weg, und damit alles Schöne. Das Dach, unter dem meine Träume einst aufgehoben waren, gibt es nicht mehr.
Und in dem kleinen Koffer, mit dem wir in Deutschland ankamen, befand sich nichts anderes als ein paar wenige Erinnerungsstücke. Zumindest aber konnten wir die Träume unserer Kinder retten. Mir genügt es, dass wir in ihren Augen keine Angst mehr erblicken müssen. Wo ich mich in ein paar Jahren sehe? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Es ist sehr schwer, sich hier in den Arbeitsmarkt zu integrieren und etwas zu finden, was zu meinen Qualifikationen passt. Mit 37 Jahren und den Sprachbarrieren ist es nicht gerade einfach. Trotzdem möchte ich aber auf jeden Fall etwas auf die Beine stellen.“
Auf ihre Zukunftspläne angesprochen, erzählt die 39-jährige Frau F.: „Als wir beschlossen, nach Deutschland zu gehen, hatten wir nicht die geringste Ahnung, welche Veränderungen diese Entscheidung für unser Leben bedeuten würde. Wir wussten überhaupt nichts über dieses Land – weder über das Leben hier noch über die Arbeitswelt, die Rechte und Pflichten. Alles, was wir wollten, war, uns wieder sicher zu fühlen – ein Gefühl, das uns der Krieg genommen hatte. Was ich mir für die Zukunft vorstelle, kann ich noch nicht genau sagen. Beispielsweise habe ich keine Ahnung vom deutschen Arbeitsmarkt. In meiner Heimat war ich Hausfrau, ich musste dort nicht arbeiten gehen. Meine einzige Arbeit bestand darin, für die Kinder zu sorgen, mit ihnen Hausaufgaben zu machen, mich um das Haus zu kümmern. Hier aber bin ich dazu gezwungen, mich mit der Arbeitswelt auseinanderzusetzen, und das fällt mir sehr schwer – aufgrund meines Alters und weil ich erst die Sprache lernen muss und auch keinerlei Berufserfahrung habe. Ich denke also, dass das Ganze nicht gerade einfach werden wird.“
Tatsächlich trifft die Wirklichkeit von Herrn A. und Frau F. auf einen großen Teil der arabischen Geflüchteten mittleren Alters zu.
Abschließend bleibt noch zu sagen, dass wohl niemand von uns so genau weiß, was die Zukunft für ihn bereithält. Unser Leben spielt sich irgendwo zwischen einem schönen Traum und einer Wirklichkeit ab, die diesen Traum von sich abzustoßen versucht. Eine Wirklichkeit, die einen dazu zwingt, wach zu bleiben, weil sie sich vor den Träumen fürchtet.
Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: العربية (Arabisch)