Auf dem richtigen Weg

Bleibt auch in Zukunft für Berlin am Thema: Die Migrationsforscherin Professorin Naika Foroutan (rechts im Bild). Foto: Thomas Luthmann
Der Prozess, der zum „Berliner Gesamtkonzept zur Integration und Partizipation Geflüchteter” geführt hat, besitzt Vorbildcharakter, berichtet die Migrationsforscherin Naika Foroutan im Interview mit der kulturTÜR

Von wissenschaftlicher Seite unterstützte das Berliner Institut für Integrations- und Migrationsforschung die Erstellung des Gesamtkonzeptes. Die kulturTÜR hat mit dessen Direktorin Naika Foroutan gesprochen.

Welches sind aus Ihrer Perspektive die wichtigsten Themen dieses Gesamtkonzepts?

Das, was an diesem Papier hervorsticht, ist im Grunde der Prozess, wie es entwickelt wurde. Dieser partizipative Ansatz, dass so viele unterschiedliche Verwaltungsbehörden, Nachbarschaften und unterschiedliche Zielgruppen über fast zwei Jahre eingebunden wurden, ist wirklich einzigartig und hat einen ganz starken Vorbildcharakter. Das, was darin entwickelt wurde, ist sehr stark an den Bedarfen der Leute formuliert worden, weil sie ihre Ziele von Anfang an mit einbringen konnten. Wenn die Prozesse mit den Personen gemeinsam geführt werden, entsteht natürlich auch ein konkreteres Papier. Das vorliegende Gesamtkonzept enthält genau die Handlungsfelder, die wir auch aus der Forschung benannt hätten.

Wo sehen Sie jetzt schon positive Signale, dass man auf dem richtigen Weg ist?

Ich komme noch einmal auf den Prozess zurück, weil man dazu neigt, immer auf das fertige Produkt zu schauen und denkt: Das soll jetzt der große Wurf sein, an dem man zwei Jahre lang gearbeitet hat? Aber in Wahrheit ist hier sehr stark der Weg das Ziel. Denn um Vertrauen zu schaffen, und Partizipation lebt von Vertrauen, muss man erst einmal den Weg der gemeinsamen Arbeit mitgegangen sein. Und es gibt nun einmal auch sehr viel Misstrauen der Gruppen untereinander. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass im Zuge der NSU-Morde das Vertrauen in die Politik sehr stark geschwunden ist. Es war interessant, wie die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz Vertrauen in die Politik zurückgewinnen konnte, indem sie viele Verbände ins Kanzleramt einlud. „Das Konzept zur Integration und Partizipation Geflüchteter betrifft ganz konkret Menschen mit Migrationsgeschichte. Es bildet eine Grundlage, um weitere nicht dominante gesellschaftliche Gruppen zu integrieren. Denn die Idee der Partizipation betrifft genauso LGBTI-Gruppen (Anmerkung der Redaktion: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle). Es betrifft ältere Menschen und Frauen stärker als Männer. Und daher ist das Konzept so angelegt, dass man es für andere Bedarfsgruppen ausbauen kann.”

Die Präsentation des „Gesamtkonzeptes zur Integration und Partizipation Geflüchteter” wurde mit Gesangseinlagen des Begegnungschors aufgelockert. Fotos: Hareth Almukdad

Sehen Sie Stolpersteine auf dem Weg der Umsetzung?

Ich glaube, dass das gesellschaftliche Klima im Moment nicht so positiv ist, um zielgruppenspezifische Maßnahmen für Geflüchtete zu schaffen. Natürlich können nicht alle das gleiche Gesetz bekommen, weil alle Personen zielgruppenspezifische Bedarfe haben. Dennoch wäre es erstrebenswert, ein Partizipations- und Teilhabegesetz für alle Berlinerinnen und Berliner zu schaffen. Und da sehe ich insofern Stolpersteine, weil seit 2015 sehr stark das Argument geführt wird: Ihr macht alles für die Geflüchteten, und für uns macht Ihr nichts. So viele Jahre fragen wir schon vergeblich nach Einbindung in die Nachbarschaft oder ehrenamtliche Unterstützung. Und jetzt macht Ihr so viele Anstrengungen für gerade mal 100.000 Leute, die in dieser Stadt sind. Und da könnte gesagt werden, es wird zu viel Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe gelenkt. Deswegen glaube ich, dass das Konzept fortgesetzt werden müsste. Nach dem Motto: Wie in einem Pilotprojekt probieren wir es mit einer kleinen Gruppe in einem bestimmten Bezirk aus, und danach erweitern wir es auf die gesamte Stadt, wo schon so lange Menschen leben, die eben das Gefühl haben, nicht gesehen zu werden.

Das wären die kleinen Zielsetzungen, um die Gesellschaft mitzunehmen?

Und dabei kann man auch partizipativ vorgehen: Wenn man für einen Stadtteil versucht, Konzepte umzusetzen, kann man die dort gemachten Erfahrungen im nächsten Stadtteil nutzen. Das Wichtigste wäre jetzt, den angestoßenen Prozess fortzuführen, weil Vertrauen jetzt gewonnen und aufgebaut worden ist. Und ich glaube auch, dass es für die Verwaltung ein schwerer Prozess war, mit vielen Akteuren zusammenzukommen, die sich einmischen und die man nur punktuell sieht. Ich fände es spannend, die Beteiligten einmal zu befragen, ob sie jetzt das Gefühl haben, dass in das Papier jetzt mehr eingeflossen ist, als das, was sie normalerweise kennen, wenn sie solche Papiere oder Gesetzestexte erstellen.

Wenn Sie in die Zukunft schauen, welches Bild haben Sie von der Berliner Stadtgesellschaft in zehn Jahren?

48 Prozent aller Kinder unter sechs Jahren haben momentan in Berlin einen Migrationshintergrund. Das heißt, in spätestens zwölf Jahren wählen sie den Berliner Senat mit. Dann verändert sich natürlich auch die Ansprache. Sie sind dann Berliner Bürger und Bürgerinnen, als die sie sich schon heute sehen. Wenn man sich als Teil einer Stadtgesellschaft sieht, dann sind andere Faktoren oft irrelevant. Wenn ich jetzt sage, ’Ich bin Berlinerin’, dann ist der Faktor, dass ich eine Frau bin, im Moment gar nicht so wichtig, wenn ich mich als Bürgerin für bestimmte Belange einbringen möchte. Oder der Faktor, dass ich einen Migrationshintergrund habe, spielt dann keine Rolle, wenn ich möchte, dass der Spielplatz um die Ecke sauberer wird. Durch den Bedarf, den ich als Bürgerin artikuliere, passiert ganz viel bürgerschaftliches Engagement für die Stadtgesellschaft, das über die eigenen Bedarfe hinausgeht. Natürlich ist es wichtig hinzugucken, wo Zielgruppen nicht gleichberechtigt partizipieren können, es heißt ja auch Partizipationskonzept. Um Partizipation zu ermöglichen, muss man sich Dinge einfallen lassen. Wenn ich z. B. eine Frauenquote im Senat haben möchte, und es bewirbt sich niemand, bin ich in der Pflicht, um die Frauen zu werben. Und so hat sich das Partizipationskonzept gleichberechtigte Teilhabe zum Ziel gesetzt, und daran muss es sich in zehn Jahren messen lassen.

Könnte dieses Integrations- und Teilhabekonzept über Berlin hinaus eine Signalwirkung haben?

Es gibt kleinere und größere Projekte, die in Deutschland partizipativ vonstatten gehen. Das wird jetzt auch in den ostdeutschen Bundesländern sehr oft ausprobiert, weil man gemerkt hat, dass bei bestimmten Entscheidungen, die von fern her getroffen wurden, wie ‚In deine Stadt kommt jetzt eine Notunterkunft‘, die Bürger rebellieren. Man hat verstanden, politische Entscheidungen gemeinsam zu diskutieren und möglicherweise Abstriche zu machen. Spätestens nach Stuttgart 21 hat man gemerkt, dass man besser hätte kommunizieren müssen.

Dass eine ganze Stadt partizipativ ein Konzept über einen solchen Zeitraum entwickelt, ist sehr, sehr innovativ. Und ich glaube, dass andere Bundesländer davon sehr viel lernen können, auch solche Konzepte zu entwickeln. Ich glaube, dass Berlin auf jeden Fall eine Vorreiterrolle spielt.

Das Papier berücksichtigt viele Punkte. Ist es vielleicht ein bisschen zu ambitioniert?

Nein, das glaube ich nicht, denn die unterschiedlichen Senatsverwaltungen haben jeweils ein eigenes Modul. Das heißt, an einer Umsetzung im Bereich Gesundheit muss nicht der Bildungssenat mitarbeiten. Und für den Bereich Gesundheit ist relativ konkret umrissen, wie man Traumaversorgung angemessen bearbeiten kann oder Leute besser einbinden kann, selbst in der psychosozialen Versorgung aktiv zu werden.

Wenn wir im Bereich der Bildung sehen, wie Sprach- oder Kulturmittler eingesetzt werden, wie Lesepatenschaften an Schulen funktionieren, dann sind das kleine, aber konkrete Dinge, die eine Verwaltungseinheit umsetzen kann.

So könnte das Paket von Erfolg gekrönt sein?

Natürlich gibt es bestimmt Leute, die sich mehr erhofft haben. Aber so, wie es aufgebaut ist, ist es keine Utopie und könnte gut umgesetzt werden.

Frau Foroutan, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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