Nachbar*innen fragen sich, wohin die vielen Menschen in ihren weißen Gewändern am Sonntagmorgen unterwegs sind.
Wenn ich Sonntagmorgen mit dem Rad zu meinem Lieblingsbäcker fahre, ist die normalerweise stark befahrene Hauptstraße so leer, dass man die bauliche Trennung als Netz verwendend wunderbar Federball spielen kann. Auf dem Fußweg trifft man ein paar verkaterte Jogginghosenträger, die ihre Hunde Gassi führen.

Man könnte denken, alle schlafen noch – wären da nicht diese weißen Silhouetten. Lange wusste ich nicht, wer sie waren. In weiße Gewänder gehüllt huschten nahezu lautlos mehrere hundert Afrikaner in kleinen Gruppen aus allen Richtungen durch die Straßen und unterhielten sich nur im Flüsterton. Neugierig folgte ich einmal dem entgegenkommenden Strom der Leute, um zu sehen, woher sie kamen und entdeckte so ihren Treffpunkt in der Friedenauer Stierstraße. Dort hat die eritreische Exilgemeinde eine Nutzungsvereinbarung mit der evangelischen Ortsgemeinde. Als ich dort ankam, war der orthodoxe Gottesdienst gerade vorbei. Vor der Kirche unterhielten sich mehrere hundert Menschen und doch war es erstaunlich ruhig. In dieser friedlichen Atmosphäre fand ich auch Gesprächspartner mit Deutschkenntnissen, die über meine Erscheinung ebenso erstaunt waren wie ich über sie. Schwarz gekleidet zwischen so viel Weiß muss ich für sie wie ein Gespenst ausgesehen haben. Seit dem legte ich dort immer gern ein paar Exemplare der kulturTÜR hin und lächelte ihnen zu.
Irgendwann im Februar aber waren sie plötzlich weg. Ich vermutete, sie hätten vielleicht einen neuen Ort gefunden, an dem sie sich treffen. Bei meinen Recherchen fand ich die wirkliche Ursache heraus. Bis zu 1000 Eritreer trafen sich sonntags in der Stierstraße. Doch dann teilte sich die Gemeinde in zwei – eigentlich in drei Gruppen. Eine Gruppe fühlt sich ihrem rechtmäßigen Patriarchen in Eritrea verpflichtet und dieser ist als Gefangener des Regimes in Hausarrest. Somit lehnen sie die eritreische Synode ab, weil sie vom Regime unterwandert sei. Deshalb haben sie nun quasi als Übergangslösung eine Bundeslade* (als wichtigste Grundlage ihrer Religion) der Ägyptisch-koptischen Kirche zur Legitimation für die Sakramentenspende (z.B. Taufe oder Eheschließung). Die andere Gruppe fühlt sich ihrer eritreischen Synode verpflichtet und hat von ihr eine „Bundeslade“ erhalten. Damit stehen sie in der Kritik de diktatorischen Regime in ihrem Heimatland treu zu sein – auch im Exil.

Foto: Stefan Hage
Die mit Abstand größte Gruppe aber ist die Dritte. Es sind die Enttäuschten, die die Ursache dieser Trennung deprimiert und die sich nirgendwo mehr zugehörig fühlen. Fahr ich nun sonntags meine Brötchen holen, sind die Straßen noch leerer. Ich vermisse das wuselige Treiben in Weiß. Anonyme Silhouetten sind sie für mich längst nicht mehr.
Anmerkung der Redaktion:
Bei der Bundeslade handelt es sich um einen mythischen Kultgegenstand des Volkes Israel, u.a. zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten, die Mose von Gott erhielt. Die eritreisch orthodoxen Christen gehen davon aus, dass die Bundeslade mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai nach Äthiopien gebracht wurde und dort bis heute aufbewahrt wird. Eine Kopie der Bundeslade befindet sich in jeder äthiopischen oder eritreischen Kirche. Sie berechtigt zur Taufe und zur Trauung von Paaren. In Berlin haben sich Teile der eritreischen Gemeinde für eine Bundeslade der koptischen Kirche entschieden, weil sie die Führung der eritreischen Synode nicht anerkennen.