Freweyni Habtemariam erklärt, warum der Kampf für den Frieden in Eritrea mit dem Friedensabkommen 2018 längst noch nicht gewonnen ist
Die meisten der etwa 1500 Eritreer in Berlin flohen in den letzten fünf Jahren vor der Diktatur, vor nicht endenden Zwangsmilitärdienst und vor dem Unrecht, was sie in ihrem Land nicht mehr weiter ertragen konnten. Freweyni Habtemariam hingegen floh vor dem kommunistischen Regime 1980 nach Deutschland. Sie lebt seit 1999 in Berlin und spricht neben ihrer Muttersprache Tigrigna, fließend Deutsch, Englisch und Amharisch. Für diese Sprachen ist sie auch studierte und beeidigte Dolmetscherin. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Vizevorsitzende des ERIDAC e.V. – Eritrean Initiative for Dialogue and Cooperation.
Im Gespräch mit der kulturTÜR, erklärte Frau Habtemariam warum die Situation in Eritrea zum einen sehr besorgniserregend, zum anderen aber auch voller Hoffnung ist.
ÄTHIOPIEN UND ERITREA HABEN IM HERBST 2018 FRIEDEN GESCHLOSSEN. WARUM IST DIES KEIN GRUND ZUR FREUDE?
Frieden ist immer ein Grund zur Freude. Zunächst waren wir über die Grenzöffnung hoch erfreut, mussten aber sehr schnell feststellen, dass die Entwicklung nicht im Interesse des eritreischen Volkes ist. Die Annäherung findet nur zwischen den Staatsoberhäuptern statt, ohne dass dem eritreischen Volk erklärt wird, wohin die Entwicklung wirklich führt. Die wahre Natur dieser Entwicklung entnehmen wir aus den äthiopischen Medien: eine Grenze zwischen den beiden souveränen Staaten sei plötzlich überflüssig und Äthiopien und Eritrea seien nicht mehr als zwei Staaten zu verstehen, sondern als zusammengehörig etc. Der eritreische Herrscher, Isayas Afewerki, hat die Führungsrolle an Dr. Abiy, dem äthiopischen Staatspräsidenten, übergeben. Was das Fass zum Überlaufen brachte, war die Aussage von Afewerki beim Friedensschluss, wir seien am Ziel und hätten nichts verloren. Auf Tigrigna sagt man dazu „aykesernan“ nichts verloren, nichts gewonnen. In Anbetracht des 30jährigen Unabhängigkeitskrieges, des langjährig propagierten Feindbildes Äthiopien und dem verheerenden Grenzkrieg ist dies eine Ohrfeige – eine Respektlosigkeit! Und eine Ohrfeige ist kein Grund zur Freude.
SIE SAGTEN NEULICH, DASS SICH DIE SITUATION IN ERITREA VON MONAT ZU MONAT ÄNDERT.
Die schon beschriebene Ohrfeige hat viele der bisher Regimetreuen, wachgerüttelt. Viele, die sich aus Angst versteckt hatten, kamen zunächst einzeln, später in Gruppen und inzwischen in zentralen Treffen in ihren jeweiligen Communities in der Diaspora zu offenen Protesten zusammen und riefen die gemeinsame Parole „Enough is Enough!“ so auch die Berliner Eritreer: Anfang April waren wir 35, zwei Wochen später schon über 200 und wir werden immer mehr. So geschieht es gerade überall auf der Welt, wo Eritreer leben. Medial sind wir stark vernetzt. und das macht uns Mut und das Regime nervös.
WAS HAT DIESER VERMEINTLICHE FRIEDENSSCHLUSS IN GANG GESETZT?
Für uns ist dieser „Nicht-Friedensabschluss“ die Gunst der Stunde – das beste, was uns passieren konnte. Es hat die wahre Natur des Regimes offengelegt und viele der Getreuen wachgerüttelt. Jetzt kämpfen die Eritreer geschlossen für den Erhalt der Souveränität Eritreas, für eine klare Grenzziehung, für die Freilassung der politischen Gefangenen, für die Implementierung der Verfassung und für die Vorbereitung von freien Wahlen etc.
IN EINER DIKTATUR SOLLTE MAN ZU SEINER EIGENEN SICHERHEIT NICHT UNÜBERLEGT REDEN. SIE SIND FÜR MICH EINE OPPOSITIONSPOLITIKERIN IM EXIL. SIND SIE IN DEUTSCHLAND IN SICHERHEIT?
Sie sehen mich gleich als Politikerin – ich bin ein politischer Mensch – keine Politikerin. Das Regime war und ist auch in der Diaspora stark vernetzt. Somit war es nicht ungefährlich das Regime zu kritisieren. Der hohe Preis ist, dass Oppositionelle ihre Heimat nicht besuchen können. Meine Mitstreiter und Mitstreiterinnen verstehen sich als die Stimme der Stimmlosen in Eritrea und der bisher sehr verängstigten Geflüchteten in der Diaspora. Es ist für mich sehr bewegend diese Entwicklung mitzuerleben. Jetzt müssen wir lernen, Demokratie zu gestalten und Wunden zu heilen, denn wir haben uns gegenseitig auch verletzt. Dies braucht eine Mediation und eine Versöhnung wie sie damals in Südafrika angewandt wurden.
WIE ENGAGIEREN SIE SICH IN DIESEM PROZESS?
Generell stehe ich allen Mutigen als Ansprechperson zur Seite. Ich bin lokal und überregional im Dialog. Ich bin auf Konferenzen. Wir haben inzwischen eine Dachorganisation gegründet, die die Interessen der Diasporaeritreer bündeln und vertreten soll. Davon bin ich Gründungsmitglied und Mitinitiatorin. Ich bin Teil der Vorbereitungen eine demokratische Nachordnung wachsen zu lassen. Eine Sonderrolle möchte ich mir nicht anmaßen – ich sehe mich mittendrin. Ich sehe mich schon in einer gestalterischen Rolle und arbeite dafür, meine Visionen umzusetzen. Ich hoffe, ich habe das notwenige Selbstbewusstsein und die Unterstützer dafür.
HEUTE IST DER 1.MAI. ES GIBT KUNDGEBUNGEN, PROTESTE, DEMONSTRATIONEN. ERITREER HABE ICH NOCH NIE IN BERLIN DEMONSTRIEREN GESEHEN. ICH ERLEBE SIE EHER UNSCHEINBAR, SCHÜCHTERN UND ZURÜCKHALTEND. IST DIES AUS ANGST ODER IST DIES DAS NATURELL DER ERITREER?
Ich vermute, die wenigsten Eritreer werden wissen, was der erste Mai für eine Bedeutung in Deutschland hat. Das hat viel mit Sozialisation zu tun. Sie kommen aus der Diktatur und sind dadurch eingeschüchtert. In Eritrea mussten sie vorsichtig sein mit dem, was sie sagen und tun. Die Flucht war auch traumatisierend. Sie tauen nun langsam auf. Ich denke, sie sind vorsichtig. Sie brauchen schließlich einen Aufenthaltsstatus. Der Hauptgrund aber ist wohl, dass sie nichts mit Politik zu tun haben wollen. Mit den neuesten Entwicklungen fühlen sie sich nun in der Pflicht, sich zu positionieren. Diese offene politische Dialogkultur muss erst gelernt werden – übrigens auch und sogar insbesondere von den bisher Regimetreuen.
WAS IST IHR APPELL AN DIE ERITREER?
Die Eritreer dürfen diese Chance zur Veränderung nicht verspielen. Das bedeutet, alle müssen Dialoge noch konstruktiver führen und nach effektiveren Maßnahmen suchen. Es muss einen kompletten Regimewechsel geben – nicht nur kleine Reformen. Wir sollten mit einem nationalen Dialog schon jetzt anfangen. Es dürfen uns keine regionalen oder religiösen Unterschiede auseinanderdividieren. Ich sehe die Gefahr, dass die Generationen der Opposition gegeneinander ausgespielt werden könnten. Ich bin der Meinung, wir brauchen alle Kräfte.
VIELEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH! ICH WÜNSCHE IHNEN VIEL KRAFT.
In Tigrinja übertragen von Freweyni Habtemariam.
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