Der Mauerfall vom anderen Ende der Welt aus betrachtet

Foto: Michael Thimm

Einer der beeindruckendsten Tage meines Lebens war der 9. November 1989. Ich saß in einer Sprachschule in Kyoto im Japanisch-Unterricht. Die Lehrerin brachte einen Kassettenrekorder mit, auf dem sie die Nachrichten aufgenommen hatte. In der Klasse mit Menschen aus verschiedensten Nationen hörten wir auf Japanisch, dass die Menschen im Osten Deutschlands jetzt ohne besondere Genehmigung in den Westen reisen können. Wir fragten uns, was das wohl heißen würde. Beim Rausgehen scherzte eine andere Deutsche: „Fehlt noch, dass wir heimkommen und wiedervereinigt sind.“

Schon die Wochen vorher hatte ich aufregende Post von meinen Freunden erhalten, die berichteten, wenn wieder ein Zug mit Geflüchteten aus Ost-Deutschland auf dem Weg von Prag, wo sie die Botschaft der BRD besetzt hatten, auf dem Transitweg durch die DDR gen Westen fuhr.

Fotos: Rita Zobel

Bis ich an diesem Tag nach Hause kam, hatte ich die Nachrichten allerdings schon wieder vergessen, als mein Nachbar ganz aufgeregt auf mich zukam und fragte: „Hast du schon gehört, was in deinem Land los ist? – Die Mauer ist weg!“ Ich bin nach dem Mauerbau geboren und mit der deutschen Teilung aufgewachsen. Die Teilung in Ost und West war für mich Fakt, und da konnte ich mir das nun gar nicht vorstellen.

Eilig telefonierte ich mit anderen Deutschen vor Ort. Wir trafen uns: bepackt mit allen Zeitungen, die wir bekommen konnten und versuchten, uns ein Bild von der Lage zu machen. Erst nach Mitternacht kam ich wieder zu Hause an, schaltete noch einmal das Fernsehen ein, und da wurden die deutschen Nachrichten (mit acht Stunden Zeitunterschied) live übertragen – unkommentiert! Bilder von den Menschen an der Mauer, die freudestrahlend und ungläubig die Grenze passierten, Menschen, die sie begrüßten, Menschen, die die Mauer eroberten … die Bilder sprachen für sich. Es war unglaublich überwältigend. Wie gerne wäre ich da gewesen, um meine Freundin aus Ost-Berlin zu begrüßen, die mich mitten in der Nacht noch rausgeklingelt hätte, wie sie mir später gestand.

Fotos: Rita Zobel

Das Beste war, dass alles friedlich blieb! Nach den Vorkommnissen in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 keine Selbstverständlichkeit. Das Misstrauen, wie sich das alles entwickeln könnte, blieb lange noch bestehen. Bevor ich meinen Aufenthalt in Japan im Februar 1990 noch einmal verlängert habe, musste ich mich erst selbst von der friedlichen Vereinigung überzeugen und kam für einen Kurzbesuch zurück, um durch das offene Berlin zu streifen: über Warschauer Straße und Oberbaum-Brücke zur Friedrichstraße, wo ich mir im Tränenpalast noch einmal einen letzten Stempel zur Ausreise geben ließ.

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