Dialog statt Vorurteile

Was mir über die Juden eingetrichtert wurde …        

 

Von meinem sechsten Lebensjahr bis zu meinem Eintritt in die Universität musste ich allmorgendlich auf dem Schulhof die Baath-Partei und Hafiz al-Assad bejubeln und den Juden den Tod wünschen. Jene Parolen haben sich während dieser Zeit so sehr in meinem Kopf verankert, dass sie sich fortan in sämtlichen meiner Ansichten widerspiegelten. Die Jahre vergingen, und die Parolen änderten sich: Aus den Hälsen, die der Baath-Partei einst zugejubelt hatten, drangen nun Parolen, die sich gegen die Partei richteten und auch gegen den Diktator Baschar al-Assad, der von seinem Vater die Herrschaft über Syrien geerbt hatte, als wäre das Land ein Privatbesitz. Ja, die Parolen hatten sich geändert – bis auf die letzten, denn diese lauteten nach wie vor: „Tod den Juden!“ Auch wenn viele der Überzeugung sind, dass mit dieser Aussage etwas nicht stimmt, wagt es niemand, sie zu hinterfragen, geschweige denn, ihr zu widersprechen.

Was wir in Syrien während des Regimes von Hafiz al-Assad lernten und was uns sogar in den Kurzgeschichten der Schulbücher für die Grundschule begegnete, war geprägt von einer Verallgemeinerung unglaublichen Ausmaßes und erheblichen Fehlern hinsichtlich Begrifflichkeiten und Benennungen. Wir lernten zum Beispiel, dass alle Juden unsere Feinde wären und sie umgebracht werden müssten, wo immer auf der Welt sie auch seien. Als 2011 die syrische Revolution ausbrach und sich der Iran und die libanesische Hisbollah mit dem Assad-Regime zwecks Unterdrückung der Revolution zusammentaten, wurden die Parolen immer radikaler. Viele Politiker in Syrien, im Iran und im Libanon sprachen davon, dass der Kampf gegen die syrische Revolution Teil der Vernichtung Israels wäre und die „Befreiung“ Jerusalems über Homs, Daraa, Aleppo und Deir ez-Zor führen würde. So wurde auch den ersten Aufständischen unterstellt, israelische Agenten zu sein. In der Folge wurden viele von ihnen festgenommen und unter ebendiesem Vorwurf in den Gefängnissen hingerichtet. Noch immer hieß es freilich: „Tod den Juden!“

Nachdem ich Syrien Ende 2012 verlassen hatte, führte mich mein Schicksal in verschiedene arabische Länder, darunter Ägypten und Libanon. Auf die Parolen, die mir aus meiner Heimat bekannt waren, traf ich auch dort – wenn auch in leicht veränderter, dem jeweiligen Land und der Laune des dortigen Machthabers angepasster Form.

Im Jahr 2017 stand ich dann zum allerersten Mal einem israelischen Staatsbürger von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und zwar in einem Deutschkurs. Fast drei Monate verbrachten wir beide in der gleichen Lerngruppe, ohne einander je gegrüßt oder auch nur ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Wir waren eben mit Vorurteilen gegenüber dem jeweils anderen behaftet. Die Aufstachelung und der Hass gegen den jeweils anderen waren aber nicht selbst ausgedacht, sondern instruiert. So hieß es auch umgekehrt in den israelischen Schulen: „Tod den Arabern!“

Bei meinen Aufenthalten in den für mich neuen Ländern begegnete ich Angehörigen verschiedenster Nationen, Kulturen und Religionen. Ich bin zur Erkenntnis gelangt, dass zwischen der israelischen Regierung bzw. dem israelischen Militär und den Juden ganz klar unterschieden werden muss. Jeder freie Mensch hat das Recht, eine Regierung zu verachten und einen solchen Standpunkt offen und ehrlich zu äußern. Genau darin liegt auch meine ganz persönliche Meinung zur israelischen Regierung: Sie hat viele Verbrechen begangen, unrechtmäßig Land besetzt und illegale Siedlungen errichtet. Dahingegen ist es völlig indiskutabel, ein ganzes Volk oder eine Religion zu hassen. Wie die Palästinenser das Recht auf Leben haben, so haben es auch die Israelis – und zwar in einem Land, in dem klare Gesetze herrschen und gleiche Rechte und Pflichten für beide Seiten gelten. Ganz und gar niemandem steht es zu, zur Vernichtung oder Ermordung eines dieser beiden Völker aufzurufen. Man stelle sich nur mal vor, irgendjemand würde zur Vernichtung des syrischen Volkes aufrufen, weil dessen Machthaber und seine Regierung Verbrecher sind! Der absolute Gipfel allen Übels aber ist, eine Religion zu hassen und deren Anhänger zu verabscheuen. Denn davon zu sprechen, dass man die Juden hasst, bedeutet, dass man einen Teil des Volkes von Syrien, von Ägypten, des Iraks, schlichtweg einen Teil aller Völker dieser Welt hasst. Dasselbe gilt natürlich für die Anhänger des Christentums und des Islams. Auch diese beiden Religionen sind ein Teil von allen Völkern dieser Erde, und dass zur Vernichtung von einer der beiden aufgerufen wird, darf es schlicht und ergreifend nicht geben!

Im am Stadtrand von Damaskus gelegenen Viertel Dschobar lebte früher eine syrisch-jüdische Gemeinde mit eigener Synagoge, die durch Luftangriffe des syrischen Regimes teilweise zerstört wurde. Ebenso gab es das berühmte Haret el Yehud, das „Jüdische Viertel“ von Damaskus, dessen Name vom großen Anteil jüdischer Bewohner im Viertel herrührt, wo sich auch eine jüdische Schule – die al-Inas-Schule – befand. Die syrischen Juden lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen:  die Misrachim, jene Anhänger der jüdischen Gemeinschaft, die schon seit dem Altertum in der Region ansässig sind, und die Sephardim, die sich infolge ihrer Vertreibung aus Spanien im 16. Jahrhundert in Syrien niederließen.

Nach dem Krieg von 1967 verabschiedete die syrische Regierung, damals unter der Führung von Hafiz al-Assad als Verteidigungsminister und wesentlichem Entscheidungsträger, eine Reihe von Gesetzen, mit denen die Rechte der syrischen Juden stark eingeschränkt wurden: Ihnen wurde verboten, sich in einer anderen syrischen Stadt als in ihrer eigenen aufzuhalten und für die Regierung zu arbeiten, noch dazu wurden ihr Vermögen und ihre Häuser von der Regierung enteignet.

Mit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad im Jahr 1970 wurde die öffentliche Stimmung gegen die Juden immer feindseliger: Mit populistischen Parolen wurden Hass und Hetze gegen die Juden geschürt. Damit und unter dem Vorwand, das Land auf den Krieg mit Israel vorbereiten zu müssen, schaffte es Assad auch, die Ressourcen Syriens zu plündern. Mehr und mehr Juden emigrierten, was auch mit der Machtübernahme seines Sohnes Baschar im Jahr 2000 kein Ende nahm. Laut Statistik von 2014 sind mittlerweile nur noch 60 bis 70 Juden in Damaskus und etwa sechs in Aleppo verblieben.

Wir müssen uns selbst viele Fragen neu stellen und unsere eigenen Vorstellungen überdenken, um endlich zu den richtigen Antworten zu finden. Ebenso müssen wir uns mit den anderen zusammensetzen und von Angesicht zu Angesicht miteinander in Dialog treten, um die – in den meisten Fällen falschen – Vorurteile aus der Welt zu schaffen.

Der Artikel wurde von Melanie Rebasso ins Deutsche übertragen.

Im Dialog mit Shalom Rollberg
Foto: Rita Zobel

kulturTÜR-Autor*innen im Gespräch mit Shalom Rollberg

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: العربية (Arabisch)

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