Zuhause bleiben, welch Luxus

Vergessene Geflüchtete in Plastikzelte verbannt

Zu Hause zu bleiben ist eine schöne Sache. Allerdings muss man erst mal ein Zuhause haben, damit das möglich ist.

Das Corona-Virus hat die Welt auf den Kopf gestellt: Die Grenzen wurden geschlossen, der Flugverkehr wurde eingestellt, und zum ersten Mal liegt der syrische Reisepass mit dem europäischen Reisepass gleichauf, was die Anzahl der Länder angeht, in die man damit reisen darf. Viele Leute sind, ganz unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem kulturellen Hintergrund, zunächst in einen maßlosen Kaufrausch verfallen und haben sich Nahrungsmittelvorräte angelegt, die zu ihrem eigentlichen Bedarf in keinem Verhältnis standen. Das hat wiederum dazu geführt, dass andere unter uns auf für sie wirklich unentbehrliche Dinge verzichten mussten, weil diese für sie einfach nicht mehr verfügbar waren. Dieser Virus hat die Menschen vor eine humanitäre Prüfung gestellt, die viele von uns nicht bestanden haben.

Als Nächstes wurden die Stimmen derjenigen immer lauter, die davon sprachen, dass die Menschen zu Hause bleiben sollten. Was zunächst noch als Bitte formuliert war, wurde schon kurze Zeit später fast einer Milliarde Menschen in allen Teilen des Planeten als Pflicht auferlegt. Indes leben in der syrischen Stadt Idlib und deren Umland fünf Millionen Syrer gewissermaßen wie eingekesselt: Auf der einen Seite blockieren Assad und Russland, auf der anderen sichert die Türkei ihre Grenzen.

Laut Schätzungen der UN wurden allein im Januar und Februar dieses Jahres fast eine Million Menschen von Assad und seinem Verbündeten Russland aus ihren Häusern vertrieben. Seitdem müssen diese Menschen im Freien wohnen, entweder unter Bäumen oder in völlig desolaten Zelten, in denen sich teilweise fünf Familien den Platz teilen – ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Hygieneartikel, ohne medizinische Versorgungsmöglichkeiten, ohne Krankenhäuser, ohne Medikamente.

Ich kann mir kaum vorstellen, was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht, wenn sie von der Welt da draußen wieder einmal dazu aufgefordert werden, in ihren Häusern zu bleiben. Schließlich ist es doch erst kurze Zeit her, dass die Welt selbst mitangesehen hat, wie ihre Häuser zu Schutt und Asche gemacht und sie aus ihnen vertrieben wurden. Ich habe mit vielen dieser Menschen gesprochen, um sie darüber aufzuklären, wie sie sich selbst und ihre Familien unter diesen Bedingungen vor einer Infektion schützen können. Ausnahmslos alle, mit denen ich gesprochen habe, waren der Meinung, dass das ganze Gerede um Krankheit und Infektion ein Luxus wäre, den sie nicht hätten. Alles, was sie im Moment beschäftigte, war die Frage, wie sie ihre Kinder vor Hunger und Kälte schützen und zu einem Plastikzelt kommen könnten, das sie vor dem Regen im Winter und vor der Hitze im Sommer schützt. Als ich dann einen von ihnen nach seinen Nahrungsmittelvorräten fragte und mich erkundigte, für wie lange diese reichen würden, war seine Antwort: „Für das Abendessen.“ Ob es morgen etwas zum Frühstück gibt, wüsste er nicht, denn die verfügbaren Grundnahrungsmittel reichten bei Weitem nicht aus, um den Bedarf der vielen Menschen in dieser Region auch nur annähernd zu decken. So gehören die Menschenschlangen vor den Lebensmittelläden genauso zum Alltag wie die Menschentrauben vor den Feldlazaretten, denen es hinten und vorne an medizinischer Ausstattung mangelt. Laut Bericht der Non-Profit-Organisation „Physicians for Human Rights“ wurden 50 Sanitätszentren im Norden Syriens durch syrische und russische Streitkräfte teilweise oder zur Gänze zerstört. Es ist genau diese Taktik – die anfängliche Zerstörung von Krankenhäusern, Kliniken, Feuerwehrstationen und Einrichtungen des Zivilschutzes  – , die die Streitkräfte anwenden, um Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Genau so gingen sie auch in Aleppo und im außerhalb von Damaskus gelegenen Ort Ghuta vor, um diese beiden Gebiete einzunehmen.

Unterdessen versucht die Türkei, die Region mit den wichtigsten medizinischen Bedarfsartikeln zu versorgen. Auch wurde das medizinische Personal vor Ort im Umgang mit Corona-Verdachtsfällen geschult, und die türkische Regierung hat die Sanitätszentren mit elektronischen Fieberthermometern ausgestattet.

Selbst zur Zeit, als dieser Artikel verfasst wurde, also Mitte April 2020, wurde noch kein einziger Corona-Fall außerhalb der von Assad kontrollierten Gebiete registriert, sodass einer der dortigen Bewohner meint: „Das Beste daran, dass die Welt uns einkesselt und von den anderen isoliert, ist, dass sie unsere Schreie nicht zu Ohren bekommt und die Krankheiten da draußen ihren Weg zu uns nicht finden.“

In den von Assad beherrschten Regionen hingegen wurden laut Gesundheitsministerium 20 Corona-Fälle verzeichnet. Tatsächlich ist aufgrund der dürftigen medizinischen Möglichkeiten und des Mangels an Corona-Tests aber von einer deutlich höheren Zahl an COVID-19-Erkrankten auszugehen als offiziell angegeben. Unglaublich ist außerdem, dass obwohl die WHO die Zahl der Intensivbetten in ganz Syrien auf lediglich 350 bis 500 schätzt, das Assad-Regime den Flugverkehr mit dem Iran – einem Corona-Virus-Hotspot – noch immer nicht eingestellt hat. Der Grund dafür ist, dass der Iran die Oberhand über Syriens politische Entscheidungen hat und somit auch über die Fortsetzung von touristischen Pilgerreisen zu Religionsstätten in Damaskus und dessen Umland. Erst nachdem die WHO die syrische Regierung vor der Gefahr einer unkontrollierbaren Ausbreitung des Corona-Virus aufgrund des Religionstourismus warnte, sah sich Assad dazu gezwungen, den Ort „Sayyidah Zaynab“, der als schiitische Pilgerstätte bekannt ist, abzusperren.

Die syrische Bevölkerung kann selbst in den gegenwärtigen Zeiten in keinster Weise auf Unterstützung durch die Regierung hoffen, im Gegenteil: Die syrische Regierung hat die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Brot und Zucker erhöht, da ja der größte Teil des Staatsbudgets für das Militär gebraucht wird, das seit neun Jahren im Einsatz ist. Genau so funktionieren Diktaturen eben: Sie ruinieren nicht nur das politische Leben, sondern zerstören auch die Wirtschaft, das gesellschaftliche Leben und vernichten alles, was den Bürgern irgendwie zu einem würdevollen Dasein verhelfen könnte.

 

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