Was uns Corona über Bildungschancen lehrt
Muna Nasser ist Patenschaftskoordinatorin bei den Schülerpaten Berlin e.V.
Der Verein vermittelt Eins-zu-eins-Bildungspatenschaften zwischen
Ehrenamtlichen und sozial benachteiligten Kindern mit Migrationshintergrund.
Im Pressegespräch „Nach Lockdown und Homeschooling: Was können Schulen
für Chancengleichheit tun?“ berichtete sie von den Erfahrungen, die viele
Schüler*innen derzeit durchleben und erklärte mir – in einem anschließenden
Interview – das Potenzial von Lernpatenschaften.
Soeben haben wir darüber beraten, welche Maßnahmen nötig sind, um Chancengleichheit unter den Bedingungen der Krise zu gewährleisten. Wie hat hierbei der Verein Schülerpaten e.V. in den letzten Monaten reagiert, um die Schüler*innen weiterhin zu unterstützen?
Muna Nasser: Persönliche Treffen waren unter den gegebenen Umständen nicht länger möglich. Also mussten wir nach Alternativen suchen und haben diese vor allem online gefunden: durch die Verknüpfung verschiedener Programme, die wir auf unserer Webseite unter „Tipps für die digitale Partnerschaft“ zusammengefasst haben. So konnte Nachhilfe , nun digital, weiterhin stattfinden, allerdings unter erschwerten Bedingungen.

Worin bestanden die größten
Herausforderungen für die
Schüler*innen?
Die Herausforderungen, die von den Schüler*innen gemeistert werden mussten, lassen sich
in mehrere Dimensionen unterteilen. Zum einen die große Überforderung der Eltern, die ihre Kinder aufgrund von Zeitmangel und Sprachschwierigkeiten nicht unterstützen konnten. Dann die fehlenden Homeschooling-Voraussetzungen, wie das nötige technische Equipment.
Zuletzt auch die fehlende Vorbereitung der Lehrer*innen auf die Situation. Konkret war für viele unserer Schüler*innen schwierig, dass sie nur mit dem Handy arbeiten konnten und nicht auf die direkte Hilfe ihrer Lehrer*innen zugreifen konnten; beispielsweise bei Fragen zu formellen Formulierungen in den Schulbüchern.
Dabei konnten die Eltern seltenhelfen, weil sie selbst geringere Sprachkenntnisse als ihre Kinder hatten. Auch waren viele Eltern bereits durch andere Verpflichtungen, wie Vorbereitungen auf Sprachprüfungen und Termine bei Behörden, ausgelastet. Ein weiteres Problem war der Platzmangel. Wie willst du arbeiten und dich konzentrieren, wenn du dir – wie viele unserer Patenkinder – ein Zimmer mit deinen Geschwistern teilst und ihr euch
untereinander am Schreibtisch abwechseln müsst?
Und wie kann den Schüler*innen
mit all diesen Problemen geholfen
werden? Was ist nötig, was ist
Priorität, damit der schulische
Erfolg nicht an der Krise scheitert?
Es ist schwierig, diese Frage mit einem einzigen Vorschlag zu beantworten, denn es kommt auf so vieles an. Die Situation sozial benachteiligter Schüler mit Migrationshintergrund muss vor dem Hintergrund der Corona-Krise stärker denn je berücksichtigt werden. Sie müssen individuell gefördert werden, damit sie wieder aufholen können: zum Beispiel durch ehrenamtliche Bildungspaten, die ihrem jeweiligen Patenkind regelmäßig Zeit schenken und an seinem größten Bedarf
ansetzen können, um es zielgenau zu fördern. Lehrer*innen können die individuelle Betreuung aller Schüler*innen nicht leisten, vor allem wegen des großen Mangels an Lehrer*innen und des Ausfalls ihrer zur Risikogruppe gehörenden Kolleg*innen. Eins-zu-eins-Bildungspatenschaften mit Ehrenamtlichen stellen nicht nur eine sinnvolle, sondern auch eine sehr kostengünstige Möglichkeit dar, um der Bildungsungleichheit entgegenzuwirken. Es ist nur wenig Personal für die Akquise, Vermittlung, Qualifizierung und Betreuung der Pat*innen nötig. Die jährlichen Kosten der wöchentlichen
individuellen Betreuung eines Schülers oder einer Schülerin betragen weniger als 600 €. Damit mehr Kinder von diesem Angebot profitieren können, sollten Bildungspatenschaften in die Regelförderung aufgenommen werden. Zumindest sollten aktuelle Projektförderungen wie das Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen” des Familienministeriums auch über 2020 hinaus aufrechterhalten werden.
Sie denken also, dass den Vereinen
eine zentrale Rolle in dieser Krise
zukommt?
Auf jeden Fall. Ehrenamtliches Engagement ist notwendig, um die Krise zu meistern! Es ist wichtig, dass die Menschen, die Hilfe brauchen, persönliche Zuwendung bekommen; von einer Person, die sich aus Überzeugung engagiert. Und es gibt derzeit viele Menschen, die genau das anbieten wollen. Bei uns ist zum Beispiel die Anzahl der Pat*innen seit Beginn von Corona angestiegen. Jetzt ist es wichtig, die Bereitschaft zu lenken, zu koordinieren und die dafür erforderlichen Institutionen zu finanzieren.
Und, bei der Vielzahl von ehrenamtlichen Angeboten, worin
besteht die besondere Qualität der Lernpatenschaften?
In der Eins-zu-eins Betreuung. In der Schule können Lehrer*innen nicht die Probleme aller ihrer Schüler*innen gleichzeitig erkennen. Noch weniger sind sie dazu in der Lage, einzelne Schüler*innen besonders zu fördern.

Anders ist es bei der individuellen Nachhilfe. Dort reagieren die Pat*innen gezielt auf die individuellen Bedürfnisse, Sorgen und Defizite der Schüler*innen. Und die Nachhilfe ist umsonst, sodass alle Familien sie beanspruchen
können. Unsere Bildungspatenschaften geben sich viel Mühe, die Schüler*innen bei ihren größten
Schwierigkeiten zu unterstützen und erkennen durch ihre persönliche Beziehung ganz andere Ursachen, als wenn die Defizite der Schüler*innen nur im Vergleich mit anderen gesehen werden. Zusätzlich erhalten die Pat*innen regelmäßig Weiterbildungen. Seit dem Projektanfang im Jahr 2009 haben wir 800 Patenschaft en vermittelt und Verbesserungen der schulischen Leistungen erreicht.
Diese Arbeit ist wichtig und zielführend; unter den gegebenen Umständen ganz besonders!
Die Anregungen von Frau Nasser zeigen hier, wie Ungleichheiten im Bildungssystem minimiert werden können und fordern uns alle dazu auf, uns für diese Förderung zu engagieren.