Begegnung mit Betroffenen des Putin-Krieges
Mariia und Yarik Herashchenko halten sich zusammen mit ihren Kindern Myroslaw und Zoriana seit dem 24. Februar 2022 in Berlin bei Freunden und Kollegen auf, mit denen sie einen Erfahrungsaustausch zum Erasmus-Programm geplant hatten. Beide arbeiten im Bereich der informellen Bildung mit Jugendlichen auf dem Land und organisieren internationale Jugendaustausch-Programme in der Region um die zentral-ukrainische Stadt Winnyzja (Vinica).
Am dritten März wollten sie wieder zurückfahren. Nun ist für sie völlig offen, wie es weitergeht und was sie künftig machen werden. Für eine Entscheidung werden sie noch ein paar Tage länger brauchen. Denn auch wenn sie hier sehr gut bei Freunden untergebracht sind, sehnen sie sich doch danach, bald wieder zurückzukehren. Und auch, wenn sie dort nicht so komfortabel leben wie hier, vermissen sie ihr Zuhause, wo sie bisher alles Notwendige zum Leben hatten.
Mit Freunden und Verwandten sind sie in ständigem Kontakt. Dort ist es jetzt für alle sehr gefährlich, auf die Straße zu gehen. Daher verstecken sie sich in Kellern und Schutzräumen und berichten von ganz unterschiedlichen Situationen: einerseits von Geiselnahmen, und dass Ukrainer vorne auf die russischen Panzer gesetzt werden, um Angriffe auf sie zu vermeiden. Aber auch von einem Dorf, in dem so viele Menschen auf die Straße gingen und sich den russischen Panzern in den Weg stellten, so dass diese sich zurückzogen….
Für Yarek ist es äußerst wichtig, dass seine Landsleute, die hierher flüchten, einen sicheren Aufenthaltsstatus bekommen und nicht nach drei Monaten, die sie mit einem Visum offiziell hierbleiben können, in die Illegalität abrutschen.
Mariia legt großen Wert darauf, Informationen, die von Russland gesendet werden, richtigzustellen. Auch hier folgt die russisch-sprachige Community zum Großteil diesen Nachrichten, wie sie auf dem Spielplatz im Gespräch mit einer Belarussin erfahren musste.
Nun arbeitet Mariia zusammen mit Isa aus Warschau an einer Webseite für Ukrainer*innen, die Unterstützung in Deutschland suchen. Isa hat bereits eine Webseite mit Informationen für Ukrainer*innen in Polen erstellt, auf der sie auch eine Wohnungsbörse betreiben. Gemeinsam mit anderen Unterstützenden möchten sie das Angebot auch für Deutschland auf den Weg bringen.
Im Ankerzentrum in Reinickendorf treffe ich Lena Wentz. Sie ist in der Ukraine geboren und lebt seit 1998 in Deutschland. Seit 2017 arbeitet sie beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) als Sachbearbeiterin für Reinickendorf und Tempelhof-Schöneberg. Jetzt hilft sie, die Ankunft der Menschen aus der Ukraine zu organisieren und übersetzt für sie.
Ihre Familie lebt zum großen Teil in der Stadt Kalynka, etwa 300 Kilometer südlich von Kiew, und muss Tag und Nacht im Keller verbringen. Nachts ist Ausgangssperre und tagsüber organisieren sie Essen, was mittlerweile schon schwierig ist, und bauen Molotow-Cocktails.
Ihre Mutter wohnt 25 Kilometer weiter in einem Dorf. Sie wird nicht zu ihr nach Deutschland kommen können, denn mit ihren 76 Jahren schafft sie es nicht in die überfüllten Züge. Und auch die Grenzen sind voller Menschen, die wegen der strikten Kontrollen in kilometerlangen Schlangen anstehen.
Wenn Lena Wentz mit ihrer Familie telefoniert, hört sie oft den Alarm, mit dem die Menschen vor den nächsten Bombenangriffen gewarnt werden. In der Stadt sind es Sirenen, auf dem Land läuten die Kirchenglocken. Dann werden sie angewiesen, ihre Ortungsdienste auszuschalten. Oft schaut Frau Wentz dann beunruhigt auf ihr Handy, um zu sehen, ob Mitglieder ihrer Familie online waren. Und wenn sie ein Lebenszeichen sieht, ist sie etwas beruhigter.
Liliia* treffe ich am Eingang des Ankerzentrums mit ihrem siebenjährigen Sohn Andreii. Beide sind erst heute, am 28. Februar, hier angekommen. Sie lebten in der Stadt Charkiw im Osten der Ukraine und sind sehr froh, jetzt hier zu sein, und keine Bomben mehr hören zu müssen. An ihrem Geburtstag, dem 24. Februar, wachte Liliia morgens um fünf Uhr auf und wunderte sich, warum das Fenster so wackelte und vibrierte. Es war der Tag des Kriegsbeginns bzw. des Vorrückens der russischen Truppen. Schon am nächsten Tag packte sie ein paar Dokumente und etwas zu essen ein und machte sich mit ihrem Sohn auf zum Bahnhof. Der Bahnsteig war so überfüllt, dass sie kaum eine Chance sah, in den Zug zu kommen. Durch Bombenangriffe kam es auf dem Bahnsteig zu Panik. Irgendwie gelang es ihnen einzusteigen, und ein Iraker, der mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter im Abteil war, bot ihr seinen Platz an. Zusammen fuhren sie nach Lwiw im Westen. Von da wollten sie mit der irakischen Familie ein Van-Taxi zur polnischen Grenze nehmen, aber weil alle Wege verstopft waren, entschloss Liliia sich, mit ihrem Sohn zu Fuß weiterzugehen. Nach einigen Kilometern erreichten sie die Grenzkontrolle. Auch dort war alles voller Menschen. Nachdem sie mehrere Stunden in der Nacht gewartet hatten, konnte sie mit ihrem Kind die Grenze passieren. Auf der polnischen Seite wurden sie zu einer Schule gebracht, wo sie Verpflegung bekamen und übernachten konnten. Am nächsten Tag sprach eine junge Familie die beiden an und nahm sie mit nach Warschau. Dort kauften sie sich ein Zugticket nach Berlin, wo sie am 27. Februar ankamen.
Im Ankerzentrum teilen sich jetzt beide ein Zimmer. Liliia ist sehr froh, hier zu sein, und keine Bomben mehr zu hören. In der Ukraine hat sie als Lehrerin gearbeitet. Diesen Beruf wird sie hier nicht ausüben können. Sie spielt mit dem Gedanken, sich im IT-Bereich zu qualifizieren. Jetzt wartet sie erst einmal ab, ob es für die Menschen aus der Ukraine einen Sonderstatus geben wird.
* Auf Liliias Wunsch wurde ihr Nachname nicht veröffentlicht.