Die Tage vergehen, und das Leben zieht vorüber. Mit einigen Zeilen – die zwar nur wenige Augenblicke lang sind – halten wir Erlebnisse und Träume von früher fest und schwelgen in Erinnerungen an längst vergangene Stunden und tiefe Emotionen.
Ich denke also an die zweite Hälfte der 80er-Jahre zurück, als die Welt noch nicht so zugänglich war wie heute. Unsere Kenntnis über andere Kulturen beschränkte sich auf das, was wir aus Serien, Filmen und Cartoons über sie erfuhren. Da jene Serien und Filme aus Amerika und Europa eingekauft wurden, haben wir sie im Fernsehen und Kino häufig in ihrer übersetzten Version gesehen.
Ich wollte unbedingt mehr über diese anderen Kulturen erfahren, die ich aus den Medien kannte, obschon das Umfeld, in dem ich aufwuchs, nur eine begrenzte Offenheit dafür an den Tag legte. Schließlich wurde es mein großer Traum, nach Europa zu gehen, auch wenn ich zu jener Zeit nicht die leiseste Ahnung hatte, wie und wann das passieren sollte. Denn damals war ich noch ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt. Jeder um mich herum wunderte sich über mein Vorhaben, immerhin war ich noch so klein und kannte niemanden außer meine Familie, meine Freunde und Verwandten. Noch dazu lebte ich in einem sehr konservativen Umfeld, das sich streng an Bräuche und Traditionen hielt und sich gegenüber jeder anderen Kultur und Tradition verschloss.
Bräuche zu pflegen ist an sich zwar eine gute Sache, doch nicht alle Bräuche haben es verdient, gepflegt zu werden. Denn Zeiten und Menschen ändern sich, und was für eine Generation Sinn machte, tut es für die nächste möglicherweise nicht mehr. Ausgenommen hiervon sind selbstverständlich moralische Grundprinzipien: Diese sollten immer und überall gelten.
Wie wohl jedes Mädchen fürchtete auch ich mich trotz aller Begeisterung aber doch irgendwie davor, weit weg von meinem sicheren Hafen zu sein: von meiner Familie, meinen Freundinnen, dem Haus meines Großvaters, der Umarmung und den Erzählungen meiner Großmutter und dem Geruch meines Kissens.
Dreißig Jahre später wurde dann der Traum, der mich meine ganze Kindheit begleitet hatte, Wirklichkeit. Plötzlich kamen mir die vergangenen dreißig Jahre wie dreißig Augenblicke vor. Meine Überfahrt auf einem der sogenannten „Boote des Todes“, die der Krieg in Syrien in rauen Mengen hervorgebracht hatte, war für mich aber keine Reise in den Tod. Ich empfand sie vielmehr als eine von „Heidis“ oder „Belles und Sebastians“ Abenteuergeschichten.
Kaum kam ich in Berlin an, war keine Spur mehr von meiner Angst übrig, plötzlich weit weg von der gewohnten Umgebung zu sein. Meine Reise mit dem, was die Welt „Todesboot“ nennt, verlief problemlos. Im Vergleich mit meinem Leben in Syrien fühlte ich mich hier zunehmend sicher und gut aufgehoben.
Die überkommenen Bräuche, die meine Bedenken genährt und mein Leben ruiniert hatten und aufgrund derer ich in meiner Heimat viele Beziehungen abgebrochen hatte, waren ab nun kein Thema mehr. Ob ich früh morgens aufstehe, um zu kochen und zu putzen, oder das alles auf den Abend verschiebe – niemand steckt seine Nase hier in Dinge, in die sich früher ständig jemand eingemischt hat.
Auch gibt es in Deutschland ein strenges Gesetz, das meine Kinder vor Gewalt in der Schule und im familiären Umfeld schützt. Keiner hat hier das Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen oder sich darüber aufzuregen, was ich wie tue.
Und ich muss hier auch nicht länger Zusammenkünften beiwohnen, bei denen ich mich deplatziert fühle. Mein Wert hängt nicht mehr von der Kleidung ab, die ich trage, von meinem Beruf oder meiner Haarfarbe, sondern kommt durch meine vielseitigen Aktivitäten und Tätigkeiten zum Ausdruck.
Zwar habe ich von rassistischen Angriffen in Deutschland gehört, diese aber hier tatsächlich niemals so erlebt, wie ich es in meinem Heimatland oder anderen arabischen Ländern am eigenen Leib erfahren habe. Man mag wahrscheinlich über das Geheimnis staunen, über das niemand spricht, das ich jetzt aber verrate: Viele Mütter in den arabischen Ländern diskriminieren ihre eigenen Kinder und ziehen das eine dem anderen vor – ganz nach dem Motto: „Wer ist das schönste, stärkste, reichste?“. Und das, wo die Mutter doch eigentlich ein Zufluchtsort für alle ihre Kinder gleichermaßen sein sollte.
Gleichwohl weiß ich auch, dass einige Europäer unser Dasein in Europa nicht akzeptieren. Zumindest aber verbietet ihnen hier das Gesetz, uns in irgendeiner Weise anzugreifen. Dort, wo wir Sicherheit und ein Gefühl von Geborgenheit finden, fernab von Patriotismus und Politik, finden wir auch unsere Heimat. Und wo wir unsere Heimat finden, sollten wir bleiben. Es sei denn, das Schicksal möchte, dass wir wieder gehen.
Ins Deutsche übertragen von Melanie Rebasso.
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