Eine ungewollte Reise

Von Kabul nach Berlin

Ein Gastbeitrag von Haroon Rasooly

Am 15. August 2021, um 9:00 Uhr morgens, war ich wie viele andere Afghanen in Kabul auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz. Es war ein warmer, sonniger Tag, und als ich im Büro ankam, machte ich mich sofort an die Arbeit, in der Hoffnung, die Zukunft besser zu gestalten. Als ich mit der täglichen Routine bei der Arbeit beschäftigt war, kam der Sicherheitsdienst in mein Büro und forderte mich auf, mein Zimmer zu verlassen. Erschrocken und besorgt fragte ich ihn: „Was ist denn los?“ – „In der Nähe sind Schüsse zu hören“, sagte er. „Uns wurde berichtet, dass die Taliban unerwartet in Kabul eingefallen sind.“
Ich war völlig schockiert, als ich diese Nachricht hörte. Ich konnte es einfach nicht glauben und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Eilig nahm ich meine wichtigsten Sachen an mich und verließ das Büro.
Als ich auf der Straße war, hatte ich keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Wo würde ich sicher sein? In meinem Zuhause? Die ganze Stadt war bereits in Angst und Schrecken versetzt. Viele Menschen flüchteten zum Flughafen von Kabul. Sie sagten, dass viele Evakuierungsflüge vom zentralen Flughafen aus starten würden, um das Leben der Menschen zu retten. Ich machte mich auch auf den Weg zum Flughafen und stellte unterwegs fest, dass viele Geschäfte und Supermärkte bereits geschlossen waren und die letzten noch in Eile schlossen. Als ich die Menge betrachtete, konnte ich nur sehen, wie die Menschen aufgeregt in verschiedene Richtungen rannten, Frauen, Männer, Kinder, Ältere und Junge.

In diesem Augenblick erfasste ich, wie elend es uns ging, und das war ein unvergesslicher Schmerz für mich.
Auch die Tatsache, dass ich alles, was ich in diesen Jahren erreicht hatte, zurücklassen musste und gezwungen war, an einen noch ungewissen Ort zu ziehen. Und das alles nur, um zu überleben!
Als ich auf dem internationalen Flughafen von Kabul ankam, herrschte großes Chaos, und es war ein unmögliches Unterfangen, dort hineinzukommen. Hunderte von Menschen versammelten sich um den Flughafen herum. Ich wartete dort mehrere Tage lang, hungrig und durstig.
Ich wanderte umher und versuchte hineinzukommen, bis am 26. August eine Explosion stattfand, bei der viele Menschen ihr Leben verloren. Das war eine furchtbare Situation! Danach wurden die Evakuierungen eingestellt.

Mir blieb mir nichts anderes übrig, als Kabul zu verlassen. Ich ging in die Provinz Herat. Dort versteckte ich mich 25 Tage lang bei einem Freund. Schließlich konnte ich mit viel Mühe das Visum für den Iran erhalten und im Oktober 2021 nach Teheran gelangen. Ich habe fast einen Monat in Teheran verbracht und war sehr besorgt und verzweifelt über meine eigene Auswanderung sowie über die Lage meiner Familie und meiner Landsleute. In den Jahren 2016 und 2017 hatte ich bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet. Deshalb konnte ich glücklicherweise ein Visum für Deutschland erhalten und dann schließlich im November 2021 nach Berlin kommen.
Jetzt, da ein Jahr seit diesen dunklen Tagen vergangen ist und ich diese bitteren Erinnerungen niederschreibe, kann ich immer noch nicht glauben, dass plötzlich alle meine Träume und Ziele für mein Land zerstört wurden und alles, was ich mir erarbeitet hatte, zu Staub zerfiel.
Zurzeit wohne ich in Berlin und würde gerne mein Bestes geben, um etwas Nützliches für mein Volk und mein Land zu tun.

 

Ins Deutsche übertragen von Navid Raeesi.

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