Kämpfen, um zu leben

Foto: Hareth Almukdad

 

Gastbeitrag von Hanan Alhasani

Es war wieder so weit: Das Zuckerfest stand vor der Tür. Und wie jedes Jahr verbrachte ich auch jenen Morgen damit, das Haus aufzuräumen, den Kindern die schönste Kleidung anzuziehen und Süßspeisen und Getränke vorzubereiten. Nachdem das alles erledigt war, setzte ich mich hin und wartete auf die Gäste, während meine älteren Kinder mit den Kindern der Nachbarn spielten und mein Kleinster in seinem Bett schlief. Mein Mann wiederum war gerade unterwegs, um noch einige Sachen vom Markt zu besorgen. 

Auf einmal hörte ich, wie jemand lautstark gegen die Tür schlug. Kurz darauf standen drei vermummte und bewaffnete Männer mitten in meinem Haus. Anstatt zu sagen, wer sie waren, brüllten sie herum und meinten, sie wären gekommen, um unser Haus nach Waffen zu durchsuchen. Inzwischen hatten sie mit ihrem lauten Geschrei auch meinen kleinen Sohn geweckt, der gar nicht mehr zu weinen aufhörte. 

Plötzlich packte mich einer der drei Männer an meinen Haaren und schlug mir mit seiner Waffe auf den Kopf, woraufhin ich zu Boden stürzte. Als Nächstes weiß ich nur noch, dass ich laut schrie, bevor ich mein Bewusstsein verlor. Später, noch immer nicht ganz bei Sinnen, spürte ich die Hände eines der drei Männer auf meinem Körper. Einer nach dem anderen vergewaltigten sie mich, wobei ich nicht genau sagen kann, wie lange dieses Martyrium dauerte. Während all dieser Zeit kam mir kein einziger meiner Nachbarn zur Hilfe. Einige von ihnen behaupteten später, meine Schreie nicht gehört zu haben, doch ich weiß, dass sie einfach selbst Angst hatten. Denn zu jener Zeit richteten die extremistischen Milizen im gesamten Irak ein riesiges Blutvergießen an – sie ermordeten, verhafteten und verbrannten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.

Nachdem sie von mir abgelassen hatten, verteilten sie im ganzen Haus Benzin und legten Feuer. Dann machten sie sich mit ihren Autos aus dem Staub. Vermutlich waren es die Hitze des Feuers und das ununterbrochene Schreien meines Kindes, die mich wieder einigermaßen zu Sinnen kommen ließen. Ich begann, in Richtung des Zimmers meines Sohnes zu kriechen, doch als ich bei ihm ankam, war das Feuer bereits schneller gewesen. Ich drückte ihn an meine Brust, kroch in Richtung Haustür, wo jedoch schon alles in Flammen stand. Meine Gedanken in diesem Moment drehten sich einzig und allein darum, mein Kind zu retten, das nicht mehr zu atmen schien. Ich lief also geradewegs durchs Feuer und verbrannte dabei die gesamte Vorderseite meines Körpers. In der nahe gelegenen Klinik, in die man mich einlieferte, wurde ich von meinem Kind getrennt und in ein separates Zimmer gebracht. Dort konnte ich hören, wie einer der Ärzte meiner Familie riet, bereits mein Grab auszuheben, da es keine Hoffnung mehr für mich gebe. Obwohl ich meine Augen vollständig geöffnet hatte, war alles dunkel. Ich konnte nicht sehen, weil meine Lider zur Gänze verbrannt waren. Zwei Wochen später erfuhr ich dann, dass mein Kind noch in meinen Armen gestorben war.

Noch stärker als die Brandwunden meines Körpers aber waren die Brandwunden meiner Seele. Denn noch während ich auf der Intensivstation lag, hat mich mein Mann verlassen. Noch dazu verbot er mir, meine Kinder zu sehen, wobei er sagte: „Schau dich an, du siehst aus wie ein Monster.“ Doch nicht nur das: Er rechtfertigte sogar, was die Vergewaltiger mir angetan hatten. Und nicht nur er, sondern auch viele meiner Nachbarn. Das Ganze ging so weit, dass sie meinten: „Sie hat es verdient. Bestimmt hat sie heimlich schändliche Dinge getan.“

Meine medizinische Behandlung im Irak dauerte viele Monate. Ich kam von einem Krankenhaus ins nächste und hatte Dutzende Operationen. Meine Familie musste all ihren Besitz verkaufen, um die Kosten dafür bezahlen zu können. Als sich mein Zustand zusehends verschlechterte, sah sich meine Familie gezwungen, mich in die Türkei verlegen zu lassen. Auch dort verbrachte ich viele Monate in Krankenhäusern und wurde von verschiedenen Chirurgen operiert, ehe ich nach Indien verlegt wurde, um dort erneut diversen Behandlungen unterzogen zu werden.

Nach diesem anstrengenden Behandlungsmarathon, der sehr an meinen körperlichen und geistigen Kräften gezehrt hatte, kehrte ich in die Türkei zurück. Im Jahr 2016 trat ich dann abermals eine Reise an – diesmal ging es nach Deutschland, wo meine körperlichen und seelischen Wunden erneut behandelt werden sollten.

Im ersten Monat wohnte ich in einer Sporthalle mit weiteren 100 Leuten. Die Situation dort war aufgrund meines entstellten Äußeren und der ihm geschuldeten teils gehässigen, teils mitleidigen Blicke der anderen sehr belastend für mich. Später wurde ich in eine Unterkunft nur für Frauen verlegt. Doch auch dort war die Situation kaum besser, denn meine Mitbewohnerinnen behandelten mich alles andere als gut. Zumindest aber hatte ich ein eigenes Zimmer, dessen Wände mich vor den Augen der anderen schützten.  

Ich beschloss also, meinen Behandlungsmarathon fortzusetzen. Doch das erste Hindernis ließ nicht lange auf sich warten: die Sprache. Ich erhielt die Kontaktdaten eines Übersetzers, der mir bei den Terminen im Krankenhaus helfen sollte. Als er nach dem ersten Termin in einer Klinik versuchte, mich sexuell zu belästigen, war ich mehr als entsetzt. Immerhin aber war dieser Übergriff Grund genug, schnellstmöglich Deutsch zu lernen. Mithilfe der für mich zuständigen Betreuerin habe ich mich dann etwa einen Monat nach meiner Ankunft in Deutschland für meinen ersten Deutschkurs angemeldet. Nach einem Jahr hatte ich bereits den B1- und B2-Kurs abgeschlossen und eine Teilzeitstelle in einer Logistikfirma gefunden. Zeitgleich hatte ich begonnen, alles für den Nachzug meiner Kinder aus dem Irak zu organisieren. Denn mein Exmann hatte mittlerweile meinem Vater gegenüber mündlich zugestimmt, meine Kinder nach Deutschland ausreisen zu lassen, und mir auch schon die dafür benötigten Dokumente zugeschickt. Drei Monate später erhielt ich einen Anruf von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Jordanien. Dieser teilte mir mit, dass die Visa bereit wären, ich jedoch noch die schriftliche Zustimmung meines Exmannes vorlegen müsste. Doch mein Exmann hatte seine Meinung inzwischen geändert und war mit der Ausreise meiner Kinder nicht mehr einverstanden. Ich war darüber dermaßen erschüttert, dass ich einen psychischen Zusammenbruch erlitt, der mein gesamtes Leben auf den Kopf stellte. Ich konnte nicht mehr arbeiten, zog mich monatelang zurück und ging nur noch aus dem Haus, um die notwendigsten Dinge zu erledigen.

Schließlich zog ich in mein eigenes Heim um. Mit Unterstützung und Hilfe einer deutschen Freundin beschloss ich, meinen Behandlungsmarathon endlich fortzusetzen. Innerhalb von zwei Jahren wurde ich allein im Gesicht elf Mal operiert. Ohne die Unterstützung meiner Freunde, die ich hier gefunden habe, hätte ich das alles gewiss nicht überstanden. Während dieser Zeit lernte ich auch einen Mann aus dem Irak kennen, der mit mir durch alle Höhen und Tiefen ging und mein größter Halt und Antrieb war. Es hat eine Weile gedauert, bis ich vertrauen fassen konnte, doch schließlich sind wir ein Paar geworden. Er entschädigt mich für jeden Moment des Schmerzes und der Trauer, den ich in den letzten zehn Jahren durchlebt habe. In ihm habe ich meine Heimat gefunden.

Heute versuche ich, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und nur noch nach vorne zu blicken. Ich bemühe mich um eine Arbeit, auch wenn jedes Bewerbungsgespräch eine Herausforderung für mich ist. Denn in den meisten Fällen werde ich aufgrund meines Aussehens abgelehnt – als hätte ich es mir selbst ausgesucht, verbrannt und im Gesicht entstellt zu werden. Und ich versuche, anderen Frauen, die Ähnliches erlebt haben, zu helfen. Ihnen sage ich: „Erhebe deine Stimme, denn du bist ein Opfer, keine Verbrecherin!“


Ins Deutsche übertragen von Melanie Rebasso.

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: العربية (Arabisch)

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