Was mir dagegen hilft
Ein Gastbeitrag von Liliia Galperina
Wer bin ich, und zu welchem Zweck bin ich auf dieser Erde erschienen? Wahrscheinlich stellt sich jeder Mensch solche Fragen auf seinem Lebensweg. Und ich auch.
Mit Beginn des Krieges in der Ukraine stellten sich jedenfalls viele derjenigen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und in verschiedenen Ländern Zuflucht zu suchen, auf die eine oder andere Weise diese Frage. Und ich auch.
Unser Weg nach Deutschland war nicht einfach, weder moralisch, psychisch noch physisch. Keiner von uns bereitete sich darauf vor, und von einem Moment zum anderen wurden wir obdachlos, arbeitslos, heimatlos, und einige verloren ihre Familie. Und ich auch.
Es ist unmöglich, die Schrecken des Krieges zu beschreiben. Diese Angst, diese Bedrohung, selbst wenn du nur die Nachrichten liest und dir Videos ansiehst. Diese Verzweiflung, diese unermessliche Trauer, die du gemeinsam mit deinem Volk erlebst.
Und es ist noch schwieriger, wenn du in Sicherheit bist, in einem anderen Land, und deine Verwandten dort geblieben sind, wenn ein Teil deines Lebens, deiner Seele und deines Herzens dort ist, wenn du nachts Tränen vergießt, damit dein Kind dich nicht sieht. Dann beschleicht dich ein Gefühl der Schuld.
Du fühlst dich schuldig daran, dass du dein eigenes Leben und das deines Kindes gerettet, Unterschlupf und Schutz gesucht hast, dass du am Leben und in Sicherheit bist, während andere ohne Dach über dem Kopf zurückgelassen und einfach zerstört wurden.
Schuld daran, dass du Lebensmittel im Kühlschrank hast, während andere nicht einmal Wasser haben. Du kannst nicht einmal lächeln, dich freuen, weil es irgendwie nicht menschlich erscheint, wenn eine Trauer unvorstellbaren Ausmaßes um dich herum ist. Wo finden wir die Medizin, die uns hilft, wieder zu uns selbst zu finden, anstatt in Trauer zu
ertrinken?
Die Antwort kam mir ganz plötzlich.
In dieser schwierigen Situation geben Familie, Kinder, Verwandte mir Kraft. Denn wenn ich mein Kind umarme, es fest an mich drücke, den Geruch und die Wärme seines Körpers spüre, dann ist das für mich doch das größte Glück auf Erden. Das ist die Freude, der Ansporn, der mich antreibt, für die Zukunft zu handeln, für eine leuchtende Zukunft.
Dann sind es die zufälligen Begegnungen mit wunderbaren Menschen, die unerwartet in meine Familie kommen, in meinem Leben auftauchen und wie ein Schutzengel immer an meiner Seite stehen, wie es mir bei meiner Ankunft in Berlin passiert ist.
Davor, in den Jahren 2007 bis 2010, hatte mich das Schicksal mit Freiwilligen des Peace Corps in der Ukraine zusammengeführt. Da hatte ich einige Zeit mit Laurel Gwizdak und Jing Li aus den USA zusammengearbeitet. Von den ersten Kriegstagen an haben diese Frauen nun Tausende Kilometer entfernt eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet und durch Freiwillige aus verschiedenen Ländern Familien in der Ukraine mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung usw. unterstützt. Solche Freiwilligenarbeit schenkt mir Hoffnung.
Kann Krieg eine Tragödie nur für ein Land sein? Nein, wie das Leben zeigt, ist dies die Notund das Leid vieler Länder, sogar der ganzen Menschheit. Denn auf die eine oder andere Weise sind wir miteinander verbunden mit unsichtbaren Fäden, gewebt von unseren Vorfahren. Nur so ist es zu verstehen, dass diese Frauen nicht wegschauen konnten und anfingen zu handeln. Und ich mit ihnen.
Entstanden ist daraus ein schlagkräftiges Team, das trotz der Distanz und der unterschiedlichen Zeiträume eine Art Brücke, Hoffnung, Erlösung für andere Familien, Bekannte oder Fremde war. Jetzt sind wir wie eine Familie, und Seite an Seite zu stehen, uns gegenseitig zu unterstützen ist das Wichtigste. Und so wurde ich auch zu einem Faden, zu einer Art Seil, in diesem globalen Netz.
Manchmal habe ich nicht oder nur sehr wenig Zeit zum Schlafen gehabt, selbst in deutschsprachigen Integrationskursen habe ich versucht, mich festzuhalten und nicht einzuschlafen. Denn anderen zu helfen, die Freude in ihren Augen und die Worte der Dankbarkeit, gibt mir Kraft und Inspiration und ist meine Medizin, um das Schuldgefühl zu überwinden, das von innen nagt.
Ich möchte mich bei der deutschen Bevölkerung und bei der deutschen Regierung von ganzem Herzen bedanken, dass auch sie Unglaubliches für uns getan haben. Sie haben uns nicht nur ihr Land und ihre Häuser geöffnet, sondern auch ihre Herzen.
Ins Deutsche übertragen von Liliia Galperina.
Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Ukrainian (Ukrainisch)